Seiten

Dienstag, 27. Januar 2009

Der Arzt

"Zwei oder drei Monate. Vielleicht auch vier." Der Arzt blickte die, wie eingefrohren, wirkende Frau mit glasigen Augen an. "Es tut mir leid."
Doch die Frau reagierte nicht.
Nach zwei Minuten Apathie atmete der Arzt tief ein und blickte die Frau, die immer noch regungslos gegenüber seinem großen Holzschreibtisch saß an. "Wenn ich irgendwie helfen kann, irgendwie, dann tu ich das natürlich... ich helfe..."
Die Frau nickte und doch wirkte sie, als wäre nur ihr Körper anwesend, während ihr Geist in diesem Moment gestorben ist.
Nach kurzer Zeit stand die Frau auf und ging nach Hause.
Als der Arzt die Tür seines Hauses aufschloss, war es bereits nach 20 Uhr. Das große Haus schien leer zu sein, als die Tür in das Schloss rastete. Müde legte er seine Schlüssel auf die Ablage und hing seinen Mantel auf. Die Tasche hatte er im Auto vergessen. "Mal wieder", murmelte er. Erschöpft vom Tag ging der Arzt in das Wohnzimmer.
"Da bist du ja" tönte es aus der dunklen Leseecke neben dem Regal. Im gleichen Moment ging die Leselampe an und er sah jemanden im Sessel. "Musst du mich so erschrecken Tobi, ich dachte du wärst im Kino."
"Ich wollte ins Kino - allerdings mit dir. Wir waren verabredet . Für 19:00. Der Film läuft natürlich schon"
"Es tut mir leid" erwiderte der Arzt matt.
" Ist ja nichts neues" Tobi wirkte verärgert. Ebenso sein Partner
"Es tut mir leid!"
"Ich gehe schlafen, Gute Nacht" Tobias warf mit großer Geste die Decke über den Sessel und verließ das Wohnzimmer.
Er hatte keine Ahnung. Er wusste nicht, dass heute vor 2 Jahren seine Mutter gestorben ist. Und er wusste nichts von Andrea. Ohnehin wusste Tobi recht wenig.
Der Arzt nahm eine Tablette und legte sich schlafen. Am Sofa.
Zwei Monate später war es April. Es regnete typischerweise, während die Sonne angenehme 21 Grad bescherte. Die Sonne und der Regen spiegelten sich am Grabstein. "RIP - Andrea Kiesler, Geboren am 21. November 1958 - Gestorben am 11. April 2009."
Tobias hielt seinen Freund, der völlig arglos die Schaufel fallen ließ, mit dem er zuvor Erde in das Grab schaufelte.
Es begrub seine Schwester nur einen halben Meter weiter, wo er vor zwei Jahren seine Mutter begrub. Er war ihr beider Arzt.

Blog-Archiv